Oh, was ist denn das?

Grübeleien, bunte Bilder, Musik, Meinungsmache und, achja, Grübeleien.

Donnerstag, 22. September 2011

Forever young, I want to be forever young...


"Hast du schonmal darüber nachgedacht, nach Hamburg zu ziehen, wenn du da sowieso arbeitest?"
"Ja schon, aber wenn man hier in Kiel erstmal einen gewissen Lebensstandard erreicht hat..."
Das war so ein Dialogfetzen, der mich vor einiger Zeit zusammenzucken lassen hat, obwohl das Gespräch mich selbst überhaupt nicht betraf. Ich saß damals in einem großen, gut ausgestatteten, aber nicht zu protzigen Auto und war dank Mitfahrzentrale Passagierin auf einer Fahrt von Kiel nach Hamburg. Etwas verträumt und müde saß ich am Fenster und beobachtete die Autos auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, als im Gespräch der zwei Endzwanziger auf den Vordersitzen plötzlich das Wort "Lebensstandard" fiel. Ich schreckte aus meinen Tagträumen hoch. Das Wort "Lebensstandard" hatte zuletzt ein Bankkaufmann mir gegenüber verwendet, als er versucht hatte, mir eine Riesterrente und diverse Sparverträge aufzudrängen, und mir gleichzeitig von meinem Studium abraten wollte, weil man da ja nichts verdient, jedenfalls nicht, wenn man mit 35 Jahren ein Auto, ein Haus und eine Familie haben wollte (das hatte ich ihm gegenüber übrigens nicht einmal angedeutet).
Leichtes Unbehagen meinerseits also, als der Fahrer und die Beifahrerin munter weiter über ihren Lebensstandard plauderten. Ich wusste nicht so recht, woher dieses Gefühl kam, aber es war das gleiche Gefühl wie jenes, das man bei Begegnungen mit ehemaligen Klassenkameraden hat, die 22-23 Jahre alt sind und mit einer fertigen, soliden Ausbildung und einem sinnvollen Studium (also nicht Germanistik) und einer eigenen Doppelhaushälfte oder wenigstens einer Einliegerwohnung bei ihren Eltern, in der sie ja total selbständig sind, gerade den Run auf die Lebensstandard-Überholspur vorbereiteten. So wie jedes mal nach einer solchen Begegnung, kreisten auch nun altbekannte Fragen durch mein Oberstübchen. Werde ich auch irgendwann mal so einen "Lebensstandard" haben? Wenn ja, wie lange dauert das? Kann man auch noch Spaß haben und total crazy Sachen machen, wenn man so ein standardisiertes Leben hat? Konzerte und so, was ist damit? Muss man sowas irgendwann haben, weil man sonst nicht auf Klassentreffen darf? Sind die betroffenen Personen glücklich damit? Wie alt darf man höchstens sein, wenn man in diesem Club Mitglied sein will, und will ich das überhaupt?
Sich Gedanken um die Zukunft zu machen, ist nicht so mein Ding. Das merkt man vielleicht auch an meiner Studienwahl... Den Preis dafür zahle ich, wenn ich mit Menschen konfrontiert werde, die sich mit Anfang 20 (oder wie bei den Leuten aus dem Auto in einem etwas angemesseneren Alter) schon total abgesichert haben. Man plaudert dann so ein bisschen und dann muss ich Dinge ertragen wie "Ja, ich hab jetzt ausgelernt bei der Versicherung, bin auch übernommen worden und mit Schatzi grade in eine tolle Doppelhaushälfte gezogen... und was willst du mit deinem Studium jetzt machen? ...Oh wie cool, das du noch in einer Band spielst... und deine neuen Dreads sind ja so cool, in meiner Bank könnte ich das ja nicht haben... aber du warst ja schon immer so crazy!" Verständlich, dass man sich dann schon ein bisschen aussätzig fühlt, wenn einem zehn Leute an einem Abend ungefähr genau das gleiche Erzählen, oder? Wenn man ohnehin schon von schlimmen Existenzängsten geplagt wird, weil man von allen Seiten die Chancenlosigkeit seines eigenen, schlampig aber originell hingeklatschten Lebensentwurfes aufgezeigt bekommt, dazu noch mit Einzelschicksalen konfrontiert wird, die sich schon in meinem Alter keine Sorgen mehr um ihre Zukunft machen müssen, und dazu der BaföG-Folgeantrag immer noch nicht durch ist, kann man schon ziemlich depressiv werden.
Aber ganz ehrlich: So ein Leben in der Rundum-Sorglos-Sackgasse, die andere vielleicht als "erstrebenswerten Lebensstandard" bezeichnen würden, ist doch auch deprimierend langweilig. Da mach ich doch lieber etwas, was ich mag und was ich kann, habe genug Zeit für zwei Bands, unzählige Parties und ähnliche coole Hobbies, kaufe Aldi-Süßigkeiten statt Designer-Food, fahre ein schrottiges Fahrrad statt einem blöden BMW und damit auch an die Ostsee und nicht ins Büro, zahle zwei statt zwanzig Euro für eine Flasche Wein, mache unbezahlte Praktika, bis ich umfalle, um das berufliche Gewissen zu beruhigen und lebe von der Hand in den Mund, und zwar auf Kosten des Staates, bis ich so in zehn Jahren vielleicht mal ausversehen schwanger und dadurch zur Vernunft gezwungen werde. An euch ganzen Spießer da draußen: Ja, ich bin immer noch "so crazy". Aber ich lebe gerne so!

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